The Outlaw Ocean: Die Gesetzlose See – ein Interview mit Ian Urbina

The Outlaw Ocean: Die Gesetzlose See – ein Interview mit Ian Urbina

Zwei Drittel der Weltmeere fallen außerhalb der Gerichtsbarkeit irgendeines Landes – die Hohe See. Der Pulitzerpreisträger, New York Times-Journalist und Autor Ian Urbina hat diesen Bereich der Gesetzlosigkeit bereist und darüber ein Buch geschrieben: Outlaw Ocean. Wir haben Ian Urbina für dich interviewt, um mehr über sein Buch, Geisternetze und die Gesetzlosigkeit auf Hoher See zu erfahren.

Zwei Drittel der Weltmeere fallen außerhalb der Gerichtsbarkeit irgendeines Landes – die Hohe See. Der Pulitzerpreisträger, New York Times-Journalist und Autor Ian Urbina hat diesen Bereich der Gesetzlosigkeit bereist. Während der fünf Jahre seiner Recherche auf Hoher See durchlebte er viele gefährliche Unterfangen und erkundete die See vom Südpolarmeer bis nach Somalia. 

“Outlaw Ocean” ist eine Sammlung von Geschichten aus seiner Recherche, persönlichen Erfahrung und Interviews mit beteiligten Menschen. Es offenbart dem öffentlichen Auge ein Vakuum des Rechts auf Hoher See und beschreibt bildhaft, was fernab der Küste und außer Sicht der Küstenwache wirklich passiert. Er schreibt über Piraterie und Schmuggelei, berichtet von versklavten Besatzungen und Mord, dokumentiert absichtliche Ölverklappung und illegale Fischerei. 

Das Buch ist ein wahrer Augenöffner, und es fühlt sich fast an als sei es ein kleines Fenster in eine parallele Welt. Während “The Outlaw Ocean” die schrecklichen menschlichen Taten aufzeigt, wenn Recht und Gerichtsbarkeit fehlen, diskutiert es auch die Schwierigkeiten darin, diese Probleme anzugehen. 

Da Bracenet unerbittlich daran arbeitet, die Meere von Geisternetzen zu befreien und diese Probleme alle miteinander verbunden sind, wollten wir gern mehr darüber lernen. Wir hatten das Glück, Ian Urbina interviewen zu dürfen und mehr über sein Buch, Geisternetze und seine Meinung über die Gesetzlosigkeit auf Hoher See zu sprechen. Viel Spaß mit dem Interview! 

Was war dein prägendstes Erlebnis während deiner Forschung?

Es ist nicht leicht, aus einem Buch mit 15 Kapiteln die prägendste und aussagekräftigste Erfahrung zu wählen. Ich denke, ich wähle zwei. Zuerst: Der Fall der “Thunder”. Die Geschichte handelt von Sea Shepherd. Die Meeresschützer*innen fahren in Eigeninitiative aus, um das gesuchteste und illegalste Fischereiboot der Welt zu finden und zu verfolgen. Die Jagd dauerte 110 Tage an und führte von der Antarktis den ganzen Weg hoch bis zur Küste Afrikas. Das Buch heißt auch “The Outlaw Ocean” und nicht “The Illegal Ocean”, denn viel davon, was da draußen passiert, fällt außerhalb des Gesetzes. Diese Erfahrung war sehr bildhaft, einprägsam und schockierend.

Als zweites: Die Sklaverei auf See. Über das Problem von gefangenen, gehandelten, verschuldeten und manchmal sogar gekidnappten Arbeiter*innen zu berichten, die auf Fischereischiffe gesetzt werden und manchmal für zwei, drei Jahre auf See festgehalten werden. Die Sklaverei geht teilweise soweit, dass die Menschen angekettet werden. Die Weitläufigkeit der Sklaverei auf dem Meer und der unglaubliche Missbrauch, der in dieser Form auf der ganzen Welt stattfindet, ist einfach nur erschreckend und ich war überrascht, wie intensiv das Problem ist.

Würdest du sagen, dass wir in unserem kontinentalen Leben verfälschte Informationen über die Gesetzlosigkeit auf der Hohen See haben oder bekommen wir einfach nicht alle Informationen?

Das Problem ist ein Mangel an Informationen. Die Fischereiindustrie ist kaum verpflichtet, ihre Aktivitäten zu melden. Es ist nicht einmal verboten, Transponder abzuschalten und komplett vom Radar zu verschwinden. Es gibt also nur sehr wenig Nachverfolgung, sobald man die Hohe See erreicht.

Und aus Sicht der Öffentlichkeit gibt es nur sehr wenig Berichterstattung aus diesem Bereich, da es extrem teuer, schwierig und zeitaufwendig ist. 56 Millionen Menschen arbeiten auf Hoher See, aber kaum jemand spricht über sie.

Würdest du sagen, dass es innerhalb der 200 Meilen Zone anders ist? Gibt es mehr Informationen und mehr Journalismus über Gesetzlosigkeit und Kriminalität?

Ehrlich gesagt nicht viel mehr. Es gibt einige Berichte über einheimische Fischer, vor allem in der lokalen Presse. Aber nur sehr wenige Zeitungen, Radiosender oder Fernsehsender haben einen eigenen Meeres-Reporter. Es gibt natürlich Journalisten, die Fischer*innen gelegentlich besuchen, aber sie bleiben nicht bei ihnen. Dabei ist das ein Stamm, in dem man lange bleiben muss, um Vertrauen zu gewinnen und zu lernen, was wirklich vor sich geht. Wir erfahren ein bisschen von der Plastikverschmutzung, wir erfahren manchmal etwas über Geisternetze, wir erfahren etwas über den Anstieg des Meeresspiegels, wir erfahren etwas über Überfischung – aber andere Geschichten wie absichtliches Versenken von Waffen, menschliche Sklaverei, illegale Fischerei, illegaler Walfang und Diebstahl von Schiffen hört man eigentlich nicht. Für diese Geschichten muss man wirklich tief graben und lange arbeiten.

Ian Urbina auf einem Boot neben einem bewaffneten Soldaten in Somalia

Man hört selten von Geschichten, bei denen jemand eindeutig verantwortlich ist. Wer ist deiner Meinung nach in der Lage, das zu ändern? Wer ist vielleicht auch dafür verantwortlich, dass dies noch nicht möglich ist?

Ihr arbeitet an Geisternetzen und macht wirklich wichtige Arbeit, und es ist wichtig, dass ihr ein Publikum in der Öffentlichkeit habt. Der Offshore-Bereich, der zwei Drittel des Planeten bedeckt, ist eine Art ferne Grenze, die nur schwer zugänglich ist. Es ist alles ziemlich undurchsichtig. Es geht nicht nur um die obskuren Schurken. Es geht auch um große Player, die wissen, dass sie ungeschoren davonkommen, wenn sie ihre Netze kappen. Niemand merkt es – erst viel später, wenn zum Beispiel Ghost Diving oder Forscher die Netze finden. 

Wer ist in der Lage, etwas zu ändern? Nun, alle!

Verbraucher*innen, die Meeresfrüchte kaufen, müssen sich mit diesen Themen auseinandersetzen und beginnen, den Leuten, die ihnen den Fisch verkaufen, Fragen zu stellen. Und die Verkäufer*innen müssen sich ebenfalls Fragen stellen. Wie können sie sicherstellen, dass all ihre Ware angemessen gefangen wurde? Wie genau sieht ihre Lieferkette aus? Regierungen müssen auch handeln, indem sie Gesetze verabschieden, Geld für ihre Vollstreckung freigeben und Inspektionen durchführen, um herauszufinden, wessen Netze verloren gegangen sind und Akteure zur Verantwortung zu ziehen. Das braucht nur Geld und politischen Willen. Steuerzahler*innen, Gesetzgebung, Anwälte, NGOs, Blogger und Unternehmen wie euch und Journalisten wie ich müssen weiter Druck ausüben. 

In deinem Buch beschreibst du, dass es auf der Hohen See keine Kontrollmechanismen gibt. Würdest du sagen, Kontrollmechanismen zu haben, würde das zu einer Verbesserung der Situation führen?

Ich bin skeptisch, dass Regierungen das Problem allein lösen können oder gar an der Front stehen. Wir reden von internationalen Gewässern, die gehören niemandem und jedem. Welche Regierung, welche Gruppierung von Regierungen hat dazu überhaupt die Autorität? Ich denke, sie werden eine Rolle spielen, aber wahrscheinlich nur durch die Verabschiedung von Gesetzen, die Druck auf Unternehmen ausüben. Diese Gesetze werden mehr Verantwortung in der Lieferkette von den Unternehmen verlangen. Ich stelle mir das nicht wie eine Hochseepolizei vor. Sondern, dass jedes Land Gesetze erlässt, die Unternehmen verbieten, ihre Produkte zu verkaufen, wenn sie nicht bestimmte Standards erfüllen. Es sollte nicht mehr erlaubt sein, Fisch anzunehmen, wenn keine klare Dokumentation der Lieferkette vorliegt.

Zum Beispiel: Ein Schiff fährt von Toyko nach L.A. und hat sieben Meilen-lange Netze registriert. Wenn es nun in L.A. mit einem ganzen Haufen Fisch ankommt und nur noch vier Meilen an Netz dabei hat, wo sind die anderen Netze geblieben? Das ist aus regulatorischer Sicht doch kein Hexenwerk. Es muss bloß ein politischer Wille vorhanden sein, den Akteuren, die den Fischfang betreiben wollen, wirklich strenge Auflagen zu erteilen.

Die Geschichten, die du schilderst, sind meist in Asien oder rund um Afrika angesiedelt, aber du beschreibst auch einige Fälle rund um Europa. Würdest du sagen, dass es einen deutlichen Unterschied zu den Verbrechen gibt, die dir in europäischen Gewässern begegnet sind? 

Ja und nein. Ich habe nicht genug Zeit in europäischen Gewässern verbracht, um eine informierte Antwort darauf geben zu können. Grundsätzlich denke ich, dass ärmere Länder die schlimmsten Missstände in ihren Gewässern haben – nicht, weil die Menschen vom Charakter her anders wären, sondern weil ihre Verzweiflung größer ist. Überfischung, illegaler Fischfang, absichtliches Verklappen von Öl und das Wegwerfen von Netzen sind Verbrechen, die ich mir auch in europäischen Gewässern vorstellen kann. Aber Mord, menschliche Sklaverei, Waffenhandel … ich denke schon, dass diese Art von Verbrechen auch in europäischen Gewässern vorkommen. Aber nicht so häufig wie an den Orten, auf die ich mich konzentriere: Lateinamerika, Afrika, Asien.

Worauf bist du im Moment neugierig, worauf wartest du, vielleicht auf eine neue Konvention oder ein neues Gesetz? Gibt es etwas in der Pipeline, das du in naher Zukunft erwartest?

Bei den Vereinten Nationen ist eine spannende Sache am Laufen, sie wird oft als “High Seas Diversity Treaty” bezeichnet. Es ist ein langer Prozess, der nun schon fast ein Jahrzehnt andauert, in dem verschiedene Vertreter verschiedener Länder und Industrien versucht haben, herauszufinden, wie man internationale Gewässer besser verwalten kann und wie man mit bestimmten Fragen umgeht, die vorher nie beantwortet wurden. Zum Beispiel: Wenn bestimmte Akteure ein Meeresschutzgebiet (MPA) einrichten wollen, um dem Klimawandel entgegenzuwirken und die Ausbeutung der Ozeane zu verlangsamen. Wer darf das tun? Wer gibt die Erlaubnis, so ein MPA einzurichten? Wer setzt es durch, was sind die Strafen, wenn jemand dagegen verstößt? Denn es handelt sich ja um einen öffentlichen Raum, richtig? MPAs sind derzeit eins der vielversprechendsten Themen im Meeresschutz. Die Diversity Treaty befasst sich aber auch mit anderen Dingen: Wer sollte entscheiden, wie viel Fisch auf Hoher See gefischt werden darf wie viele Fischereifahrzeuge dort sein sollten?

Hast du persönlich Geisternetze auf den Fischereibooten gesehen oder Menschen, die die Netze abschneiden?

Die einzige Begegnung mit Geisternetzen hatte ich in der Geschichte am Anfang des Buches über die Verfolgung der “Thunder”. Aber das waren keine Geisternetze im eigentlichen Sinne. Das waren Netze, die zur illegalen Fischerei verwendet wurden und von Sea Shepherd beschlagnahmt wurden. Sie schnitten die Netze von dem illegalen Schiff “Thunder” ab und nahmen sie als Beweis für die Verbrechen mit an Bord. Das verursachte eine Menge Konflikt und die “Thunder” wurde sehr aggressiv und wütend darüber, dass ihre Netze konfisziert und aus ihrer Sicht gestohlen wurden. 

Ian Urbina vor einem Fischerboot

Kannst du den Zusammenhang zwischen illegaler Fischerei und Geisternetzen etwas näher erläutern?

Wenn man ein legales Fischereifahrzeug betreibt, dann muss man voraussichtlich den Überblick über die Ausrüstung behalten. Man muss tatsächlich saubere Bücher führen. Wenn man aber Kapitän eines illegalen Schiffes ist, dann kann man gefangene Arbeitskräfte einsetzen, weil niemand es kontrolliert, und eine Mannschaft kann auf halber Strecke einer Reise verschwinden, weil niemand fragen wird, warum zwei Leute fehlen. Und wenn es günstiger ist, ein Netz zu kappen statt den ganzen Tag einzusammeln, kann man das auch tun. Zeit und Raum sind entscheidend. Wenn ein Netz in einer Situation ist, das ein Schiff eine gewisse Zeit aufhalten könnte, bedeutet Zeit gleich Treibstoff. Und was die Leute an Land nicht wissen: Das Zeitfenster, in dem man den Fang abwerfen kann, ist oft sehr begrenzt.

Über eins sollten die Menschen unbedingt nachdenken: Die Vielfalt der Missbrauchsfälle und Verbrechen auf See ist größer, als den meisten Menschen bewusst ist. Die Probleme da draußen sind akut und vielfältig. Sie sind miteinander verbunden, weil sie typischerweise koexistieren und sich gegenseitig bedingen. Illegale Fischerei steht in Verbindung mit Sklaverei auf See, und Sklaverei auf See steht in Verbindung mit Geisternetzen.

Glauben Sie, dass Unternehmen wie das unsere, die sich mit Themen wie Plastikverschmutzung, radikalem Fischfang oder generell Plastikmüll beschäftigen, diese Probleme lösen können? 

Ja – ich würde nur anmerken, dass ich nicht an “Lösen” oder “Beheben” oder “Ankommen” glaube. Das Beste, worauf wir hoffen sollten, ist, dass wir uns ständig dem Ziel annähern, aber nicht unbedingt ankommen. Denn ich glaube nicht, dass man diese Dinge jemals wirklich lösen kann. Der einzige Weg, wie wir dem Ziel extrem nahe kommen, ist, wenn wir auf viele verschiedene Antworten setzen. 

Wir haben also Start-ups, viele Organisationen wie euch, die an der Basis, auf organischer und lokaler Ebene einen Teil der Gleichung verändern. Gleichzeitig gibt es andere Interessengruppen, die diese Themen auf ihren Wegen vorantreiben: Anwälte und Gewerkschaften, die die Fischereiarbeitskräfte nicht nur für Menschenrechte vertreten, sondern sie auch schützen, wenn sie zum Beispiel ein Geisternetz auf dem Schiff melden, auf dem sie gearbeitet haben. Alle haben eine Rolle zu spielen, als Spender*in, als Elternteil, als Ehepartner*in, als Steuerzahler*in, als Fachkraft, als Künstler*in. Ich glaube, dass alle diese Akteure gebraucht werden. Aber ganz besonders Unternehmen wie euch, die versuchen, die Nutzung der Produkte (der Geisternetze) zu verändern. Das ist großartig.

Isst du noch Fisch? Wir können uns vorstellen, dass du während deiner Recherche im Offshore-Bereich nicht wirklich die Wahl hattest. 

Ich habe vor vielen Jahren aufgehört, Fleisch und Meeresfrüchte zu essen – hauptsächlich als Experiment, um zu sehen, ob ich es schaffe. Ich war Sportler und außerdem haben mich der Land- und Wasserverbrauch sowie die Politik rund um Fleisch und Meeresfrüchte beunruhigt. Das war vor zwei Jahrzehnten. Deshalb esse ich jetzt weder Meeresfrüchte noch Fleisch. Aber wenn ich bei jemandem zu Gast bin oder, viel wichtiger, auf einem Schiff bin und berichte, esse ich immer, was mir vorgesetzt wird, ganz egal, was es ist, und ich genieße es sehr.

Reist du nach all den Dingen, die du gesehen hast, immer noch auf den Ozeanen für einen privaten Urlaub?

Zweifellos. Ich habe noch mehr Liebe für diesen Raum und bin noch abhängiger von seiner Schönheit, seiner Kraft und seinem Geheimnis geworden als zuvor. Ich bin nicht mit dem Segeln aufgewachsen. Ich war noch nie auf einem Kreuzfahrtschiff. Sogesehen mache ich nicht wirklich Urlaub auf dem Meer. Aber wenn ich Urlaub mache, möchte ich am liebsten am Meer sein. Ich liebe das Meer, und ich liebe besonders Inselkulturen sehr. Immer, wenn ich auf Reportagereise bin und auf diesen Schiffen auf See bin, fühle ich eine gewisse, fast existenzielle Verbundenheit mit dem Meer, da draußen, so weit weg von der Küste. In den letzten sieben oder acht Jahren bin ich regelrecht süchtig nach dieser Art von Ruhe geworden, die sich einstellt, wenn man das Festland für längere Zeit verlässt. Es ist auf eine seltsame Weise wie eine Raumfahrt.

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Viele aus dem Team Bracenet haben “The Outlaw Ocean” schon gelesen oder sind gerade dabei. Wir finden, es ist eine Pflichtlektüre für alle, denen unsere Ozeane am Herzen liegen. Hier erfährst du mehr über das The Outlaw-Ocean-Projekt.

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